12|11|10: Alltagsfallen und -fälle

Es fällt schwer dieses Buch zu lesen. Und das spricht für das Buch. Heidi Kastner – dem Publikum als Gutachterin im Fall Fritzl bekannt geworden – hat in ihrem neuen Band Fallstudien zusammengetragen, die bei aller Unterschiedlichkeit eines gemeinsam haben: ein schreckliches Ende. Das Grauen, so erinnert uns Kastner, ist nur selten bis zur Kenntlichkeit entstellt, sondern verbirgt sich im Alltag eines lieblos behandelten Halbwüchsigen, einer permanent herabgewürdigten Frau, eines der Sprache der Gefühle unmächtigen Mannes.

Heidi Kastner © Tom Öttle

Im Nachhinein betrachtet hat es dann nicht viel gebraucht, damit die Firnis der Zivilisation zu blättern beginnt, um schließlich in Mord und Totschlag zu enden – ausgelöst durch dieses eine Quäntchen an vermeintlich unerträglicher Zumutung, das andere, ein wenig glückhaftere Menschen mehr oder weniger gelassen wegstecken. Kastner ist für dreierlei zu danken: Erstens hat sie die Geschichten dieser Menschen mit einer bewundernswerten Lakonie verfasst, die erst die Lektüre und dann auch die Reflexion ermöglicht. Zweitens lässt Kastner den Fallgeschichten jeweils Analysen folgen, in denen sie die psychiatrischen Hintergründe erklärt und die neurotischen, narzisstischen, schizophrenen oder hysterischen Persönlichkeiten der Täterinnen und Täter erläutert. Kastner tut das mit einer Sachlichkeit, die im ersten Moment verschreckt, weil sie wie jene Empathielosigkeit anmutet, die Kastner bei diesen Menschen als eigentliche Voraussetzung für ihre Taten ausmacht. Der Unterschied besteht darin, dass Kastner diese Empathielosigkeit als Methode anwendet und reflektiert, während ihr die Täterinnen und Täter ausgeliefert sind. Drittens ist Kastner zu danken, weil dieses Buch ein famoses Beispiel für die Beschreibung und Erklärung von beinah alltäglichen Phänomenen mit den Methoden der Wissenschaft ist bei gleichzeitiger Befähigung der Autorin, diese Wissenschaft ins allgemein Verständliche zu übertragen ohne deswegen an Komplexität einzubüßen. Und für dieses Kunststück nimmt man auch den in seiner Einfallslosigkeit befremdlichen Schutzumschlag in Kauf, den man ja dankenswerterweise mit einem Handgriff entfernen kann.

Schuldhaft – Täter und ihre Innenwelten“ von Heidi Kastner. K&S, 174 Seiten, € 22

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