11|11|07: Der Höhlenmensch

Universum Magazin, November 2011

Der Höhlenmensch

Werner Herzog dringt mit seinem jüngsten Film zu den Ursprüngen der Kultur vor . Er findet sie in einer Höhle in Südfrankreich, in der sich malende Menschen vor 33.000 Jahren verewigt haben.

Der Ursprung des Bildes liegt im Dunklen. Das ist keine Metapher, sondern die Beschreibung des optischen Vorgangs: Das Licht eines reflektierenden oder selbst leuchtenden Objekts dringt durch ein kleines Loch in einen dunklen Raum und wirft das Bild dieses Objekts auf die Rückseite des Raumes – das Prinzip der Camera obscura, auf dem alle analogen Fotoapparate und Filmkameras basieren. Entwicklungsgeschichtlich markiert dieses Prinzip den Übergang zur Wahrnehmung von Bildern, wenn auch in sehr vereinfachter Form: Während Seesterne und Quallen mit ihren sogenannten Flachaugen nur Kontraste unterscheiden können, ist es Kopffüßlern wie den Perlbooten mit ihren Lochaugen möglich, tatsächlich Bilder von Objekten zu sehen.


Der Filmemacher Werner Herzog begibt sich in seinem jüngsten Film „Die Höhle der vergessenen Träume“ in eine Camera obscura, also ein „dunkles Gewölbe“, wie es im Italienischen wörtlich heißt. In der Chauvet-Höhle im Süden Frankreichs dokumentiert Herzog Bilder, die Menschen vor rund 33.000 Jahren gemalt haben. Diese Bilder haben Jahrtausende später nichts von ihrer materiellen Strahlkraft und metaphysischen Faszination verloren. Sie berichten von einem entscheidenden Moment der Geschichte: Der Mensch macht sich die Welt, indem er sich ein Bild von ihr macht. Durch die Bilder trennt dieser malende Mensch die Zeit von seiner eigenen Existenz. Statt nur im Augenblick zu leben, stattet er sich selber mit dem Bezugssystem des Zeitverlaufs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus – ein Akt der Bevollmächtigung seiner selbst als Wesen jenseits der Natur, also der entscheidende Schritt zur Kultur.

.

 

Ein Panoptikum der Eiszeit

Die Galerie zeigt einen Ausschnitt der eiszeitlichen Tierwelt, die damals in der Tundra Mitteleuropas lebte: Wollnashörner und Mammuts, Höhlenlöwen und Panther, Uhus, Hyänen, Höhlenbären und Pferde. Mindestens 13 Arten finden sich mit Holzkohle und Ocker gezeichnet auf den Wänden von bis zu 12 Metern Breite. Oft sind  die Umrisse der Tiere verdoppelt oder einzelne Körperteile mehrfach leicht versetzt dargestellt, somit eine Bewegung nachahmend. Und so wie sich die Bilder der Cro-Magnon-Menschen zu bewegen beginnen, nimmt auch die Phantasie der gegenwärtigen Beobachter Tempo auf.

Welche Wirkung der Anblick der 400 Bilder auf Herzog hatte, berichtete er in einem Gespräch mit dem Guardian-Filmkritiker Jason Solomons im April dieses Jahres: „Ich will das Publikum nicht mit Fakten langweilen. Ich muss mich nicht vor den Fakten verantworten, sondern vor der Kunst. Ich will bloß Geschichten erzählen.“ Dass sich die Bilder diese Magie bewahrt haben, ist nicht zuletzt einem Naturereignis geschuldet. Vor 20.000 Jahren verschloss ein Erdrutsch den Zugang zu der Höhle im Flusstal der Ardèche. Im Wortsinn unberührt von der Welt überdauerten die Zeichnungen und die anderen Zeitzeugnisse jene Periode, in der sich der steinzeitliche Urmensch zum postindustriellen User wandelte. Am 18. Dezember 1994 sind zwei Hobby-Forscher und eine Kollegin nahe der Pont d’Arc unterwegs, des Brückenbogens aus Kalkstein, der sich in dramatischer Weise über den Fluss wölbt. An einer Felswand bemerken sie einen Luftzug aus einem kleinen Loch. Die drei räumen Geröll zur Seite und kriechen durch den so freigelegten Eingang.

26.000 Jahre alte Fußspuren

Herzog geht mit seinem Filmteam diesen Weg nach. Mit dem ehemaligen Forschungsleiter der Höhle, dem Archäologen Jean Clottes, betritt er den ersten Raum. Clottes erklärt: „Hier war der ursprüngliche Eingang, hier gab es noch Licht. Wie Sie sehen, gibt es hier keine Malereien. Die wurden nicht bei Licht, sondern in der Dunkelheit  gemalt.“ Das Team dringt weiter vor, auf einem 60 Zentimeter breiten Metallsteg, der unter keinen Umständen verlassen werden darf, denn in der Erde links und rechts davon zeichnen sich Spuren ab. Da die Krallenkratzer eines Bären, dort über eine Länge von 70 Meter hinweg die Fußabdrücke eines vielleicht 13-Jährigen, der den Ruß von seiner brennenden Fackel an der Höhlenwand abstreifte – mit 26.000 Jahren die ältesten datierbaren Fußspuren eines bestimmten Menschen. Dann an der Wand die ersten Werke: Hände, in rotes Ocker getaucht und vielfach an die Wand gedrückt. Eine fällt besonders auf: Erkennbar ist der deformierte kleine Finger an der rechten Hand – die Abweichung von der Norm lässt das Individuum hervortreten. Von dem Winkel des Abdrucks lässt sich erschließen, dass der Mensch mindestens 1,80 Meter groß war.

Die Kamera schwenkt zum Team. Herzog ist zu sehen. Sein Gesicht ist in Schweiß getaucht. Unwillkürlich stellt sich die Erinnerung ein an seine Spielfilme vergangener Jahrzehnte: „Fitzcaraldo“ etwa, die Film-Oper über ein alles (und zwar zuvorderst den Verstand) verzehrende Begehren nach Verwirklichung und Vollendung durch die Kunst, gedreht weit jenseits des Nervenzusammenbruchs im Regenwald Amazoniens als Ringen zwischen Mensch und Natur, zwischen Hauptdarsteller Klaus Kinski und Regisseur Werner Herzog.

In einer Dokumentation des in Wien lebenden Filmemachers Fred Baker berichtet Herzog vor Archäologen in Cambridge von dem Moment, als er die Höhle das erste Mal betrat: „Ich wurde erfasst von einem Gefühl der Ehrfurcht.“ Und: „Die Pilgerreise, die einen in das Heiligtum führt, birgt einen Wert an sich.“ Die Wissenschaftler rings herum nicken andächtig. In Herzogs Film ist am Boden ein skelettierter Bärenschädel zu erkennen. In der Höhle hausten die Bären, bevor die Menschen in die Grotte eindrangen. Und sie nahmen sie nach dem Besuch der Künstler wieder in Besitz. Die Tierbilder berichten davon, wem die  Höhle gehört, den Tieren nämlich. Selbst, wenn sie in aller Wildheit dargestellt sind, lösen sie keine Ängste aus, sondern ein Gefühl von Vertrautheit. Dargestellt sind nicht die Jagdszenen wie in der um 15.000 Jahre jüngeren Höhle von Lascaux, sondern die Respekt einflössenden Tiere der Umgebung. Die Bilder und das Gestein verschmelzen ineinander: Die Schulter eines Bisons formt sich rund um einen Buckel aus Kalk. Das Becken eines Löwen folgt einer konvexen Kurve im Gestein. Alles ist von einer hauchdünnen Schicht von Kalkspat überzeugen, dass das Wasser in Jahrtausenden aus dem Fels gelöst hat. Selbst die Kohlestücke, die ein Maler aus der Hand hat fallen lassen, liegen an genau derselben Stelle wie vor 33.000 Jahren.

Die Brüder in der Höhle

Grabungsleiter Jean Clottes dreht sich zum Filmteam: „Bitte um Ruhe. Hören Sie der Höhle zu. Vielleicht hören Sie auch ihren eigenen Herzschlag.“ Die Besucher verharren in vollständiger Bewunderung. Warum Herzog an dieser Stelle aber Musik und sogar Herzschläge über die Szene legen muss, möge zu seinen Gunsten nur dadurch erklärt werden, dass er die ZuschauerInnen im Kino nicht vollständig mit der Macht des Moments konfrontieren wollte. Wo sonst, wenn nicht im Kino, liefert man sich heute freiwillig einer unbekannten Dunkelheit aus. Ein paar skurrile Auftritte sorgen dafür, dass die Gegenwart in Erinnerung bleibt: Ein experimenteller Archäologe, eingehüllt in ein Caribou-Fell, pfeift ein Liedchen auf dem Nachbau einer Knochenpfeife, die auf der Schwäbischen Alb gefunden und auf ein Alter von 35.000 Jahren datiert wurde. Die Melodie klingt wie „The Stars and Stripes“. Ein anderer Wissenschaftler blamiert sich bei einem Speerwurf. Ein pensionierter Parfumeur will mit seinem Geruchssinn weitere Höhlen erschnüffeln.

Zurück in der Höhle. Warum bloß haben sich die Künstler nicht selber gemalt. Oder waren es Künstlerinnen? Eine einzige menschliche Figur ist erkennbar: Eine weibliche Vulva, dazu Beine. Der Kopf eines Bisons schaut hervor und umrankt sie. Mensch und Tier gehen ineinander auf. Simon McBurney schreibt im Guardian: „Die Wahrnehmung und die Vorstellung dieser Künstler sind die selben wie unsere. Wir fühlen uns den Zeichnungen auf den Wänden der Chauvet-Höhle näher als, zum Beispiel, einem ägyptischen Wandbild. Diese Künstler sind nicht entfernte Verwandte, es sind Brüder. Sie sahen so wie wir, sie malten so wie wir.“

Die vielleicht größte Herausforderung besteht für die ArchäologInnen darin, diese Flut an Assoziationen von der Realität der Funde trennen. Tatsache ist, dass die Bilder von immensem wissenschaftlichen Wert sind. Das Aurignacien – die älteste Phase der Jungsteinzeit vor etwa 40.000 bis 30.000 Jahren – gilt als jene Epoche, in der der moderne Mensch nach Europa einwanderte. Die Fanny vom Galgenberg, jene vermeintlich tanzende Frauenfigur, die oberhalb von Krems gefunden wurde, stammt aus dieser Epoche; die Venus von Willendorf ist rund 10.000 Jahre jünger.

Die Höhlenbilder könnten zu einem Zeitpunkt entstanden sein, als das Klima kälter wurde, was die Würm-Eiszeit einleitete. Noch lebten auch Neandertaler in Europa. Besonders viele Fundorte ihrer Relikte gibt es in der Karstregion Südfrankreichs rund um das Tal der Ardèche. In Cambridge erzählt Herzog: „Was wir in der Höhle sehen, ist die Ankunft der modernen menschlichen Kultur, der menschlichen Seele.“ Und er gibt – wissentlich oder auch nicht – gleich ein Beispiel dafür, indem er den malenden Homo sapiens vom Homo neanderthalensis strikt unterscheidet, der Herzog zu Folge „keine Musik gemacht, keine Toten begraben, keine figurativen Repräsentationen“ seiner Umwelt angefertigt habe. Eine Aussage, die in dieser Eindeutigkeit wissenschaftlich nicht haltbar ist – vor allem aber ist sie nicht notwendig, um die Einmaligkeit der Gemälde zu verdeutlichen.

Auf der Flucht

Bei aller Zurückhaltung der Wissenschaft, an Hypothesen mangelt es nicht: Die Chimäre mit dem Bisonkopf lasse sich als Objekt sexueller Initiation deuten, der Ort habe also dazu gedient, Übergangsrituale vom Kind zum Erwachsenen zu inszenieren . Oder: Der ehemalige Forschungsleiter Jean Clottes beschreibt die Höhle als sakralen Ort, in dem Priester den Kontakt zum Jenseits suchten. Auf einem großen Stein ist ein Bärenschädel wie auf einem Altar platziert. Die Kunstwerke seien von oder für Schamanen angefertigt worden, die mit Hilfe halluzinogener Substanzen Kontakt zu den machtvollen Tieren aufgenommen hätten. Oder: Einer anderen Hypothese zufolge sind die Zeichnungen einfach Schießscheiben für Speerwurfübungen gewesen.

Für die Wissenschaft ist der Schatz noch lange nicht gehoben. Bloß zweimal im Jahr dürfen kleine Teams für wenigen Wochen (und dann nur stundenweise) die Höhle betreten. In Lascaux und Altamira beschädigte der Atem der BesucherInnen die Wandmalereien so sehr, dass die Höhlen dauerhaft geschlossen werden mussten. In Chauvet wird von vornherein ein Replikat der Höhle in der Nähe errichtet. Herzog durfte als erster (und voraussichtlich auf lange Zeit einziger) Filmemacher mit seinem kleinen Team unter strengen Auflagen die Höhle betreten und darin mit eigens adaptierten 3D-Kameras filmen. Auch so ein Experiment nach dem Geschmack des Filmemachers, ist doch diese Technik für Autorenfilmer wie ihn eine Novität. Einzig Wim Wenders hat sich bislang mit der Hommage an die Tänzerin Pina Bausch dieser Technik anvertraut, mit der sonst Kanonenkugeln auf das Publikum abgefeuert werden wie in „Piraten der Karibik“. In Herzogs Film rechtfertigt das Ergebnis den Aufwand der Produktion – und jenen der ZuseherInnen im Kino. Die Höhle wird tatsächlich als Skulptur erlebbar.

So wird auch verständlich, was die ArchäologInnen meinen, wenn sie davon erzählen, wie sie das Gefühl umfängt, aus der Dunkelheit heraus von jenen Menschen beobachtet zu werden, die die Zeichnungen vor 30 Jahrtausenden angefertigt und damit diesem Ort ihre Träume anvertraut haben. „Es macht mir enorme Freude, Bilder zu finden, die für unserer Zivilisation stehen“, erzählt Herzog in der Dokumentation von Fred Baker. Und als ob diese Bilder nicht genug wären, zeigt Herzog in einem Postskriptum zu dem Film Krokodile in einem Aquarium ein paar Kilometer flussabwärts. Das Wasser des Aquariums wird beheizt von der Abwärme eines Atomkraftwerks. Die darin lebenden Krokodile sind durch eine Mutation erbleicht – die Projektion einer Zukunftsvision auf der Rückseite einer Camera obscura? Wobei: Die Wirklichkeit ist immer packender. In dem Gespräch vom April dieses Jahres mit Jason Solomons berichtet Herzog, dass unlängst fünf dieser Krokodile ausgebrochen seien: „Vier haben sie wieder eingefangen. Eines ist noch immer auf der Flucht.“