16|02|09: Vom Wiener Kreis zur Science City

Ein Auszug aus dem Ballmagazin 2016 des Wiener Balls der Wissenschaften am 30. Jänner 2016; zum kompletten Ballmagazin geht es hier entlang. In dem von mir initiierten Gespräch diskutierten am 14. Jänner 2016 der Wiener Bürgermeister Michael Häupl und der Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler die Kontakt- und die Reibungsflächen von Politik und Wissenschaft – und was sich aus dem Wiener Kreis der Zwischenkriegszeit für die Gegenwart lernen lässt. Schauplatz des Gesprächs war das Büro des Bürgermeisters im Wiener Rathaus.

Organisiert vom Philosophen Moritz Schlick, entwickelte sich der Wiener Kreis in der Zwischenkriegszeit zu einem Forum, das die innovativsten und wissbegierigsten DenkerInnen jener Zeit aus einer Vielzahl von Disziplinen versammelte. Die Erkenntnisse des Wiener Kreises wirkten – auch nach seiner Zerstörung in den 1930er-Jahren – weit über Wien hinaus. Die Ausstellung »Der Wiener Kreis – Exaktes Denken am Rand des Untergangs«, kuratiert vom Mathematiker Karl Sigmund und dem Wissenschaftshistoriker Friedrich Stadler, bildete einen der Höhepunkte des Jubiläumsjahrs 2015 der Universität Wien; die Schau wird in der Folge auch im Ausland zu sehen sein. Doch was lässt sich aus der Tradition des Wiener Kreises lernen? Und wie kann die Politik interdisziplinären Wissensaustausch ermöglichen? Ball­organisator Oliver Lehmann moderierte im Rathaus ein Gespräch zwischen dem Politiker Michael Häupl und dem Wissenschaftler Friedrich Stadler.

Lehmann: Das Wirken des Wiener Kreises lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: zum einen die Erarbeitung und Propagierung einer antimetaphysischen, durch und durch wissenschaftlichen Weltsicht quer über alle Felder – heute würde man sagen: interdisziplinär – und zum anderen diese bemerkenswerte Verschränkung von Wissenschaft und Alltag. Denker wie Otto Glöckel, Ludo Moritz Hartmann oder Hans Hahn, Edgar Zilsel, Otto Neurath standen einerseits der Denkerrunde nahe, waren andererseits aber auch als Volksbildner, Schulreformer oder eben Gründer des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums tätig. Ist diese Beschreibung korrekt?

Stadler: Ein Alleinstellungsmerkmal war, dass der Wiener Kreis nicht nur eine akademische Veranstaltung oder ein Professorenzirkel war. Einerseits hat er die Wissenschaften am letzten Stand der Forschung angesprochen und gefragt, was die Disziplinen verbindet. Aber gleichzeitig wurde im Kontext der Wiener Volksbildungsbewegung der Verein »Ernst Mach« gegründet, der bis 1934 zur Popularisierung naturwissenschaftlicher Kenntnisse beitrug. Da gab es ganz starke Vernetzungen zwischen intellektuellen und liberal-sozial­demokratischen Milieus. Einige Mitglieder des Wiener Kreises haben als Lehrer an Volkshochschulen unterrichtet und haben davon gelebt. Als Synergie­effekt ergab sich dadurch, dass das Innen und Aussen von Forschung, Lehre und Bildung zusammenkamen.

Innen und Aussen?

Stadler: Universitäre und ausseruniversitäre Kompetenz und Expertise. Diese Haltung war mit dem aufklärerischen Bewusstsein verbunden, dass man nicht nur die Massen indoktrinieren, sondern sie teilhaben lassen sollte an diesem Wissen zur Selbstverständigung und auch zur »Befreiung durch Wissen«. Natürlich sind das grosse Worte und Parolen, aber das war die Motivation der meisten Mitglieder, die aus der Mathematik, Logik, Philosophie und Soziologie kamen. Und ein Mitglied, der angesprochene Otto Neurath, war explizit der Meinung, dass man das vorhandene Wissen nicht nur in Worten, sondern auch in Bildern darstellen, also visualisieren muss und damit Aufklärung für die breite Bevölkerung betreiben sollte.

Lehmann: Ist das damals im Roten Wien tatsächlich so wahrgenommen worden? War der Wiener Kreis, waren seine Ergebnisse ein Thema? Oder stand die Bewältigung des Alltags, der Wohnungsnot, nach dem Ersten Weltkrieg im Vordergrund?

Häupl: Sowohl als auch. Das Rote Wien war so wenig eine Einheit wie das heutige Wien. Natürlich sind für die sogenannten armen Leut’ in erster Linie das Wohnprogramm oder das Gesundheitsprogramm im Vordergrund gestanden. Aber man soll nicht verkennen, dass es auch ein Bildungsprogramm gegeben hat. Glöckel war kein einsamer Rufer in einer Wüste. Ich sehe in der intellektuellen Bewegung des Wiener Kreises zwei grosse Themen. Das erste ist das, was man heute Interdisziplinarität nennt – eine faszinierende Geschichte. Die Brücke von der Naturwissenschaft zur Geisteswissenschaft mit dem Schlussstein der Philosophie. Das ist etwas, das heute, auf amerikanischen Universitäten im Besonderen, praktiziert wird. So wie das auch in meiner Studienzeit gehandhabt wurde. Das zweite Thema ist diese Vision des neuen Menschen, den man durch Erziehung formen kann. – Ein ziemlich paternalistisches Konzept, würden wir heute sagen. Das ändert für mich aber nichts an der Faszination der Grundidee, dass »Bildung Menschen frei macht«. Die ganze Volksbildung bis zu den heutigen Uni-meets-Public-Aktivitäten fusst ja auf diesen Überlegungen, dass auch Universitätsprofessoren in der Volksbildung tätig zu sein haben. Also wenn man so will: Bildung als Evolutionsfaktor des Menschen. Das hat aus meiner Sicht schon eine ganze Menge für sich und hat eine gute Tradition bis heute. Dass diese Themen von Brüchen gekennzeichnet sind, die insbesondere aus der Diktatur des Nationalsozialismus folgten, wissen wir alle.

Lehmann: Warum hat es so lang gedauert, um da wieder anzusetzen?

Häupl: Weil wahnsinnig viel zerstört worden ist durch das grosse Morden. Nicht nur durch die Kriegshandlungen selbst, sondern insbesondere durch die Verfolgung jüdischer Intellektueller, durch die Massenvertreibung des Geistes aus österreichisch-deutschen Landen. Ich verwende den Begriff bewusst, weil ja Österreicher in diesem Zusammenhang nicht von Schuld freizusprechen sind. Es braucht Jahrzehnte, um das einigermassen aufzuholen. Und ganz sicher bin ich mir nicht, dass wir das tatsächlich schon komplett geschafft haben.

Lehmann: Kann man an dieser Geschichte des Wiener Kreises erkennen, wie fragil eigentlich so eine Gruppe ist, die zu einem bestimmten Zeitpunkt unter besonders glückhaften Umständen zusammenfindet, aber wenn sie einmal zerstört wurde, kaum wieder rekonstruierbar ist?

Stadler: Das ist eine gute Frage: Kann man die Entstehung von Innovation bewusst fördern? Im Wiener Kreis war das eine glückliche Konstellation. Der Wiener Kreis war Teil einer blühenden, vorwiegend jüdischen Wissenschaftskultur für einige Jahre, wurde gewaltsam zerstört und vertrieben. Die Folgen sind sicher bis in unsere Gegenwart zu spüren, weil es ja um Generationen geht, um aufgebaute Netzwerke, um Erkenntnisse und Kenntnisse, die präsent sind und nicht nur niedergeschrieben wurden – und auch um gesellschaftliches Bewusstsein.

Lehmann: Was sind denn Voraussetzungen, um ein Milieu zu schaffen, in dem so ein Kreis entstehen und wirken kann?

Stadler: Ich denke, man kann daraus lernen, dass eine wissenschaftsfreundliche Politik, ähnlich wie eine kulturfreundliche Einstellung gegenüber Literatur, Kunst und Musik, die notwendige Voraussetzung ist, aber nicht die hinreichende Massnahme. Das heisst, man kann ein wissenschaftsfreundliches Klima schaffen. Man kann die Bereitschaft signalisieren, dass die Wissenschaft den gleichen Wert hat wie ökonomische Förderung, wie wirtschaftliche Innovation und Infrastrukturförderung.

Lehmann: Welche Erkenntnisse des Wiener Kreises lassen sich denn auf die Gegenwart transponieren?

Stadler: Aus meiner Sicht als Hochschullehrer glaube ich wie der Herr Bürgermeister, dass die Interdisziplinarität einzigartig war und heute auch als höchstes Gut betrachtet werden sollte. Nämlich, dass Leute aus verschiedenen Disziplinen zusammenkommen wollen und miteinander reden, um verstehen zu können, was sich heute z. B. in den Life Sciences abspielt, aus der Sicht der Philosophie. Oder umgekehrt, dass sich die Quantenphysik an die Philosophie richtet und fragt: Was heisst das, wenn wir Vorgänge in der Natur nur indirekt über Instrumente beobachten können? Was heisst das für die Evidenz, die Bestätigung, die Bewährung? Dieses Klima muss aber auch institutionell ermöglicht werden. Derzeit ist es immer noch so, dass wir eher in Disziplinen denken, in Instituten weiterarbeiten und weniger übergreifend und vernetzend agieren.

Lehmann: Sie beschreiben das Organigramm der klassischen Universität.

Stadler: Zum Beispiel. Ja.

Lehmann: Aber funktioniert so eine Form der Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik heute überhaupt noch? Wo bleibt da die Anknüpfungsmöglichkeit an die Wissenschaft, die per se langfristig – und im Falle der Grundlagenforschung und der Geisteswissenschaften nicht tagesaktuell – agieren soll?

Häupl: Ich darf kurz auf die grosse Zeit des Wiener Kreises zurückkommen. Man muss schon auch sehen, dass damals dieser Wiener Kreis relativ konfrontativ zum herrschenden Zeitgeist stand – vor allem natürlich zur Politik und dem damaligen Politikverständnis. Da hat vielleicht auch diese Reibungswärme zu einem Zusammenschluss dieser Personen geführt.

Stadler: Es gab ja auch das Schwarze Wien.

Häupl: Ja, es gab auch eine austrofaschistische Zeit – vom Nationalsozialismus, dieser absolut geistfeindlichen Bewegung – gar nicht zu reden. Aber unabhängig vom Roten Wien und vom Schwarzen Wien, war das eine Frage einer wirklichen inhaltlich-­gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Heute hat die Politik die Aufgabe, Strukturen und Dialogräume zu schaffen, durchaus auch konfrontative Diskurse zu unterstützen, die innerhalb der Wissenschaft, der Kultur, der Kunst, der Literatur, der Musik stattfinden.

Wir Politiker sollten uns nicht anmassen, die Leitlinien für wissenschaftliche Forschung vorzugeben, sondern Räume zu schaffen. Gerade in der Grundlagenforschung ist Dialog besonders wichtig. Und ausserdem braucht es Mut zum Risiko. Es ist ab und an schwierig, dies Industriellen zu erklären. Aber das muss ja nicht unbedingt in der angewandten Forschung eines Labors eines pharmazeutischen Konzerns sein. Dort wird man für Fehlerkultur wahrscheinlich relativ wenig Verständnis aufbringen können. Aber gerade in der Grundlagenforschung gehört Trial and Error einfach dazu.

Lehmann: Braucht es nicht auch mehr Kenntnis von politischen Abläufen auf Seiten der Wissenschaft, um die Erkenntnisse besser vermitteln zu können?

Stadler: Bei Evaluierungen spielt es inzwischen eine Rolle, inwieweit die Forschung, aber auch die Qualität der Lehre in der Öffentlichkeit und international wahrgenommen wird. Allerdings sind die beiden Sphären, nämlich Politik und Wissenschaft, getrennt. Einzelkämpfer, also aufgeschlossene Politiker und Politikerinnen und andererseits Forscher und Forscherinnen, die in die Öffentlichkeit gehen, sind zwar vorhanden, aber nicht typisch. Aber es gibt hervorragende Beispiele dafür, gerade im Wien seit der Jahrhundertwende 1900, wo es volkstümliche Universitätskurse gab, wo es eine Selbstverständlichkeit war, dass Professoren wie Ernst Mach – damals gab es ja keine Professorinnen – in die Öffentlichkeit gingen und an Volkshochschulen unterrichteten und den höchsten Stand der Wissenschaft popularisierten. Es gab einige glückliche Verkörperungen einer Balance zwischen Wissenschaft und Politik: den Mediziner und späteren Gesundheitsstadtrat Julius Tandler, oder auch den Juristen und Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung Hans Kelsen. Die kannten sich in beiden Sphären, jener der Politik und jener der Wissenschaft, gut aus.

Lehmann: Was hat sich seitdem geändert?

Stadler: Die Wissensgesellschaft vor allem seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bietet einen anderen Rahmen für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik. Die Digitalisierung, die massenhafte Verwendung von Computern, das Internet ermöglichen eine andere Form der Kommunikation. Während man früher Leute ausserhalb ihrer beruflichen Verpflichtungen getroffen hat, so ist es heute nicht mehr selbstverständlich, dass private Diskussionszirkel vorhanden sind, weil man sich über E-Mail oder Skype schnell austauschen kann. Das bedeutet aber nicht, dass gleichzeitig die Relevanz und die Qualität des Wissens steigen.

Häupl: Das ist auch der Unterschied zwischen Informationsaustausch, der natürlich über das Internet glänzend schnell und international funktioniert, und tatsächlicher Kommunikation. Damit meine ich das simple »miteinander red’n« in der besten Wiener Tradition. Das ist, wenn aus einem Gespräch heraus gemeinsam Kreativität entwickelt wird. Das macht für mich den wesentlichen Unterschied aus.

Lehmann: Die Präsidenten von IIASA und IST Austria, Pavel Kabat und Thomas Henzinger, konstatieren, dass Wien als Stadt der Künste weltberühmt ist, sich aber als Science City unter ihrem Wert schlägt. Sie regen eine gemeinsame Aktivität aller Universitäten und der Stadt Wien zur Bewerbung und Propagierung der Science City Vienna an, weil die Exzellenz zwar vorhanden, die Kenntnis darüber aber nicht in entsprechendem Masse da ist. Analog zu Tourismusmarketing und Wirtschaftsmarketing sollte es ein Wissenschaftsmarketing geben.

Häupl: Grossartige Idee! Dafür renn’ ich seit über 21 Jahren. Des moch’ ma.

Dokumentation: Gabriel Roland