
Anfang September habe ich – ewig angeregt durch den Text einer Kollegin – an der Transhumanz vom Ötztal ins Schnalstal teilgenommen: Dem saisonalen Zug von 1500 Schafen mit ihrem Personal über den Hochjochferner von den Nordtiroler Sommerweiden in ihre Südtiroler Ställe. Seit 6000 Jahren sollen die Herden diese Wege begehen, Ötzi ist unweit von hier gefunden worden.
Am Samstag fahren wir von Kurzras mit der Seilbahn hinauf auf die Grawand und wandern dann entlang der letzten Reste des Schnalstaler Gletschers zum Schutzhaus zur Schönen Aussicht, wo wir übernachten.
Am Sonntag früh dann zieht die Vorhut mit den Mutter- und Jungtieren und einem blinden Schaf am alten Zollhaus vorbei, wahrlich behütet von einem jungen Schäfer und seinen beiden Helferinnen. Und, ja, eine von ihnen trägt ein erschöpftes Lamm im Arm, während das Muttertier blökend nebenher trottet. Zwei Stunden später kommt die große Masse, aber nicht wie seit Jahrhunderten den Höhenweg entlang, sondern durch den Talgrund, wo sich vor zehn Jahren noch der Gletscher erstreckte und heute zwei Schmelzwasserseen die letzten Reste andeuten. Die Herde mit SchäferInnen bewegt sich mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit aber ohne Hektik durch die Landschaft. Das Blöcken und die Glocken der Tiere überlagern die Stille und schwellen zu einem Rauschen an, ohne dabei zu unangenehm zu lärmen – eine minimalistische Sound-Installation, ebenso einnehmend wie weltfremd, ohne befremdlich zu sein. Mit ein wenig Abstand verliert die Herde die Anmutung einer Ansammlung von Tieren und nimmt die Form einer Flüssigkeit von sich ständig verändernder Viskosität an: Mal schneller, mal langsamer überformen die Tiere die Felsen, drängen sich auf den Schneisen, die des Winters die Schneeraupen in den Boden geschrammt haben, und weichen vor den steilen Geröllhalden zurück, mit wenigen Zurufen der HirtInnen und schnellen Umrundungen der gedrungenen Hirtenhunde gelenkt. Ein Strom, der sich bergauf durch die Landschaft ergießt, bis zu Mittag das Schutzhaus erreicht ist. Dort simulieren Zollbeamte staatliche Ordnung und geben sich doch mit einem Handschlag zufrieden, während die HirtInnen, die um 5 Uhr früh drüben in Vent aufgebrochen waren, zum Mittagessen einkehren und die Schafe mit ihren fleischigen Lippen die Felsritzen nach Gräsern und Kräutern absuchen.
Vielleicht 100 Menschen haben die Mühe auf sich genommen, entweder in der Früh herauf zu kommen oder in der Hütte zu übernachten. Vom Standpunkt der touristischen Verwertung gibt es nicht viel zu sehen. Außer eben viele Tiere mit ihren zotteligen Fellen von dunkelschwarz über rotbraun hin zu schmutzig-weiß, die allermeisten schlampig mit Spraydosen markiert. Außer ein paar Hinweistafeln und Wikipedia-Einträgen deutet nichts auf die Jahrhunderte lange Tradition hin. Sonderlich ertragreich kann diese Wanderung zwischen Sommerwiese und Winterquartier nicht sein, die Schafzucht wohl auch nicht. Und trotzdem nehmen die Bauern und SchäferInnen den Weg auf sich, als ob sie durch ihre Beharrlichkeit die Sinnhaftigkeit von Landwirtschaft auf 2500 Metern Seehöhe unter Beweis stellen und die Folgen des Klimawandels abweisen könnten. Ein Blick auf die Schwarzweißfotos in der Hütte reicht, um die Dramatik und Dynamik der Veränderung innerhalb weniger Jahre zu erfassen.
Nach dem Mittagessen werden die Tiere in Hunderter-Gruppen durch eine Engstelle bei der Hütte hinab Richtung Tal gelassen; erst einen schmalen Weg zwischen Bergwand und Abgrund entlang und dann über eine Almwiese hinab endlich in den winterlichen Stall. Und die Gäste? Die haben bei hervorragenden Schlutzkrapfen und Südtiroler Sauvignon die Sonne genossen und ihre ausgeprägte Fähigkeit zur selektiven Wahrnehmung unter Beweis gestellt: An kaum einem anderen Ort unserer Breiten ist die Dynamik des Wandels so ersichtlich, so spürbar, so unabweisbar; und trotzdem ist die Landschaft von überwältigender Schönheit. Diese Widersprüche werden zunehmen. Und wir werden trotzdem damit leben, ein Weilchen jedenfalls.
Die Transhumanz der Schafe
Schutzhütte zur Schönen Aussicht
Filmarchiv: „Der Weg der Herde“ (AT, 1959)