11|10|02: Mit Charme und Lavendel

Die deutsche Ausgabe von National Geographic präsentiert in der Serie „Das gute Beispiel“ Menschen, die ökologische Utopien wahr werden lassen. Für die Oktober-Ausgabe 2011 wurde ich eingeladen, die Hotel-Chefin Michaela Reitterer zu porträtieren, die in Wien das weltweit erste Hotel mit Null-Energie-Bilanz entwickelt und 2009 eröffnet hat.

National Geographic Deutschland, Oktober 2011

Mit Charme und Lavendel

Unsere Welt kann nur dann dauerhaft lebenswert bleiben, wenn wir uns am Prinzip der Nachhaltigkeit orientieren. Wir stellen Menschen vor, die ökologisch, ökonomisch oder sozial nachhaltig handeln. Vorbilder wie Michaela Reitterer, die mitten in Wien das weltweit erste Hotel mit Null-Energie-Bilanz führt.

Michaela Reitterer im Lavendelfeld auf dem Flachdach ihres Hotels / Foto: Peter Rigaud für National Geographic

Michaela Reitterer im Lavendelfeld auf dem Flachdach ihres Hotels / Foto: Peter Rigaud für National Geographic

Hotels rühmen sich gemeinhin ihres Komforts, ihrer Sauberkeit und ihrer Lage. Das „Boutique Hotel Stadthalle“ aber heißt seine Gäste auf der Stirnwand des Foyers in großen Lettern „herzlich willkommen im weltweit ersten Stadthotel mit Null-Energie-Bilanz“. Das muss man sich trauen. Doch an der Rezeption haben Dora, Stefania und Monika an einem heißen Juli-Nachmittag alle Hände voll zu tun. Gerade sind zwei Familien und eine Gruppe von Freunden eingetroffen. Sie erhalten Keycards, einen Hinweis auf die Fahrradgarage und die Aussicht auf Rabatt: Wer mit Bahn oder Rad anreist, spart zehn Prozent.

Die Frau, die mit dem Charme eines TÜV-Verfahrens für ihr Hotel wirbt, ist Michaela Reitterer, die Direktorin und Eigentümerin. Im Wiener Dialekt würde sie eine „fesche Gretl“ heißen: Sie ist attraktiv, trägt semi-legeren Business-Dress, Modeschmuck aus dem letzten Urlaub und am Handgelenk die sportive Uhr einer Nobelmarke. Flott gesprochen könnte man auch „resche Gretl“ hören. Das bedeutet – höflich formuliert – eine durchsetzungsfähige Persönlichkeit, die sich nicht so leicht die Butter vom Brot nehmen lässt: «Ich hab in den letzten Jahren so oft gehört: ‹Das geht nicht.› Wenn ich das ernst genommen hätte, wäre ich nicht dort, wo ich heute bin.» Nämlich im Zentrum der Aufmerksamkeit von ökologisch interessierten Kollegen – «Grad hab ich acht Hoteldirektoren aus China da g’habt.» –, Touristikern und Stadtplanern. Ihr Hotel steht auf den Reiseplänen von gut 15000 Gästen pro Jahr, die ihm zu 44000 Übernachtungen in 80 Zimmern mit 147 Betten verhelfen. Auslastung: 82 Prozent.Das ist eine bemerkenswerte Leistung in einer Stadt wie Wien: Beim internationalen Kongresstourismus liegt Österreichs Metropole im globalen Vergleich mit Paris auf Platz eins, aber die Stadt wirbt eher mit Charme, Kultur und Lebensqualität als mit technischen Pionierleistungen.

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Auch Michaela Reitterer hatte nichts Weltbewegendes im Sinn, als sie 2008 das Nachbarhaus abreißen ließ, um ihr Hotel zu erweitern, das sie 2001 von den Eltern geerbt hatte. Ein Vorstadthaus aus dem 19. Jahrhundert, umgewandelt in eine Herberge mit 42 Zimmern: «Ein paar Biedermeiermöbel haben sie noch von den Vormietern übernommen.» Wo heute kuschelige Lounge-Liegen den begrünten Innenhof zu einem Foyer unter freiem Himmel erweitern, standen vor zehn Jahren noch «Mülltonnen und die Teppichklopfstange», erzählt die Hausherrin und fügt hinzu: «Dies ist ein organisch gewachsenes Haus.»

Heute hält Reitterer in der einen Hand den BlackBerry und malt mit der anderen Tortendiagramme in die Luft. Es spricht die Geschäftsfrau, nicht die Öko-Aktivistin: «Ich wollte die Betriebskosten reduzieren. Deswegen hab ich beschlossen: Wir bauen ein Passivhaus.» Als Referenz hatten die Architekten ein Studentenheim in Salzburg vorzuweisen: Wegen der guten Wärmedämmung braucht es im Winter keine übliche Heizung, im Sommer keine Kühlung. «Bei der Planung sind wir dann draufgekommen, dass wir ein Haus mit Null-Energie-Bilanz bauen könnten.»

Der neue Trakt mit 38 Zimmern – eröffnet im Herbst 2009 – erzeugt übers Jahr gerechnet tatsächlich mindestens genau so viel Energie, wie er verbraucht: durch konsequente Absenkung und Vermeidung des Verbrauchs; durch die möglichst umfassende Nutzung der Energie; durch ihre Erzeugung im und am Haus selbst.

Spar- und LED-Lampen sind Standard, um den Energieverbrauch zu reduzieren. Für Laien auf den ersten Blick weniger schlüssig ist der Nutzen des 200 Quadratmeter großen Lavendelfeldes auf dem Flachdach des Hoftraktes. Abgesehen von dem Duft, den die Blüten im begrünten Innenhof verströmen, bevor sie – in Form kleiner Duftkissen – an der Rezeption gekauft werden können. Doch Wiens größtes innerstädtisches Lavendelfeld trägt dazu bei, die darunterliegenden Zimmer zu isolieren; eine Klimaanlage erübrigt sich dort.

Herzstück der Energienutzung ist eine Wasser-Wärme-Pumpe. Sie versorgt die Zimmer im Winter mit Wärme, im Sommer werden die Räume über dieselben Leitungen gekühlt. In dem Kreislauf wird Energie frei, die zur Warmwasserbereitung dient. Das Wasser stammt aus zwei Brunnen im Keller, die Reitterer eigens bohren ließ. Zupass kam ihr dabei, dass beim Bau der in der Nähe verlaufenden U-Bahn die Geologie des Untergrunds genau erfasst worden war. «In 14 Meter Tiefe sind wir auf die wasserführende Schicht gestoßen.»

Wer sein Wasser zu einem Gutteil selber fördert, weiß um den Wert: Eine Nutzwasseranlage mit 20 Kubikmeter Fassungsvermögen versorgt die Spülkästen der Toiletten. Das berühmte Wiener Leitungswasser – direkt aus den Alpen – wäre zu schade dafür. Das empfiehlt die Chefin ihren Gästen lieber als kostenloses Erfrischungsgetränk, wie auf kleinen Hinweisschildern in den Zimmern zu lesen ist.

Wie wird nun in diesem Hotel Energie nicht nur gespart, sondern auch produziert? Eine Photovoltaikanlage und Solarpanele mit einer Gesamtfläche von 370 Quadratmeter erzeugen warmes Wasser und Strom für den Betrieb der Haustechnik im Keller und in den Zimmern. Die Anlage funktioniert derart reibungslos, dass sich der Hersteller, Siemens, inzwischen mit dem Hotel als Referenzprojekt schmückt.

Des Lobes voll sind auch Politik, Stadtverwaltung und die Hotelbranche selbst. Die Kommune hat Reitterer mit dem „Umweltpreis der Stadt Wien“ ausgezeichnet, der zuständige Bundesminister mit dem „Umweltzeichen der Republik Österreich“. Angenehmer Nebeneffekt: «Ich hab bis heute keinen Cent für klassische Werbung ausgegeben.» Der Erfolg hat die alleinerziehende Mutter zweier Teenager selber ein wenig verblüfft – und auch verändert: «Moral und Profit sind kein Widerspruch. Aber ob sich die Investitionen in acht oder erst in zehn Jahren amortisieren, ist mir nicht so wichtig.»

Was als Kostenreduktionsmodell begann, ist ein umfassendes Nachhaltigkeitsprojekt mit Lifestyle-Flair geworden. Die Ausstattung ist funktional, aber nicht luxuriös. «Lieber bin ich das beste Drei-Sterne-Hotel von Wien als irgendein Vier-Sterne-Haus», sagt die Hausherrin. Allen Zimmern ist die Hingabe einer weiblichen Gastgeberin mit Gestaltungswillen und mediterraner Neigung anzumerken. «Lieblingsstadt? Ganz klar: Istanbul.»

Die Angestellten laden im Hof die Akkus der E-Bikes mit Solarstrom auf, Gäste können E-Scooter ausleihen, die Rezeptionistin bestellt nur Taxis mit Hybrid-Antrieb, die Teebeutel am Frühstücksbüfett haben keine Metallklammern, weil die den Kompost belasten würden.

«Ich mag gern Dinge ausprobieren», sagt Michaela Reitterer mit ihrer markanten Stimme, während sie im Vorbeigehen die Tagesdecke auf dem Doppelbett einer Suite mit Wien-Blick noch ein wenig straffer zieht. Einen Fassadengarten zum Beispiel: «Damit beschatte ich die Außenwand, reduziere den Kühlungsbedarf, und die Gäste haben was zum Naschen.» Auf dem Dach will sie drei Windräder installieren lassen. Es wäre die erste Anlage dieser Art im Stadtgebiet. Noch zieren sich die Behörden. Auf der anderen Straßenseite wohnt ein Politiker, dem vom Anblick sich drehender Rotoren angeblich schwindlig wird. Die Frau Direktorin freut sich, wie gehabt: «Da sagt schon wieder jemand: ‹Das geht nicht.›»