25|08|31: Der Bildermacher

© Oliver Lehmann

Rede zur Ausstellungseröffnung und Buchpräsentation »Voraus – Hintaus – Mittendrin« von Franz Krestan in der Eisenbergerfabrik in Gmünd, 30.08.2025

Man kann den Strukturwandel, den das Waldviertel nun schon seit Jahrzehnten durchmacht, in aller Ausführlichkeit und Akkuratesse empirisch beschreiben. Am Ende wird doch das gleiche Ergebnis herauskommen wie bei einer anekdotischen Betrachtung: Die Jungen gehen weg und die Alten sterben weg. Ab und zu bilden sich Widerstandsnester gegen die Dynamik der demografischen, ökonomischen und infrastrukturellen Abwärtsspirale. Diese Nester sind bewohnt von interessanten Vögeln:  störrische Einheimische und (vorerst) enthusiastische Zuzügler. Da werden dann Kulturvereine gegründet, alte Textilfabriken wiederbelebt, rührige Verlage etabliert – alles löbliche Initiativen und allemal klüger, als das Schicksal der Gegend zu besiegeln, indem an der Umfahrungsstraße noch ein paar Hektar für den Einkaufspark versiegelt werden. Was für ein Potenzial diese Gegend hat, lässt sich daran ermessen, wie erfolgreich und innovativ die Waldviertlerinnen und Waldviertler außerhalb des Waldviertels, in Wien und in der Welt sind. Das ist aber kein guter Trost.

Ein Grund für die Beharrlichkeit, mit der sich autochthone BewohnerInnen des Waldviertels den oben erwähnten löblichen Initiativen widersetzen, ist die jahrzehntelange Erfahrung, dass den BetreiberInnen solcher Initiativen irgendwann die Luft und die Lust ausgehen wird – in den geologischen Zeitmaßstäben des Gneis-Granit-Plateaus eher früher als später. Dabei wird übersehen, dass es sich bei dieser Sturheit um einen Zirkelschluss der De-Motivation handelt. Ich behaupte, eine Erfahrung, die der Gegend fehlt, ist die Dynamik der Aufwärtsspirale. Im Waldviertel sieht man eine Spirale, und wenn man sie nicht mit einem Windrad verwechselt, heißt es: Das kann nix werden. Wahr ist aber: Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Oder, noch deutlicher und um hier erst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen. Falls Sie einen solchen Haufen suchen: Franz Krestan hat einige besonders mächtige Exemplare für seinen Band abgelichtet.

Bisweilen heißt es, dass das zahlende Publikum die Abgeschiedenheit, die Einsamkeit, ja den Verfall von Landschaft und Dörfern schätze: Das Waldviertel quasi als Lost Place für AnfängerInnen. Dieses Argument lässt sich leicht widerlegen: im Sommer beispielweise bei den Festivals am Ufer des Herrensees in Litschau, bei einer Vernissage in der Eisenberger-Fabrik in Gmünd oder mit einem Blick von der Terrasse des Mohnkaffeehauses auf die Schlange vor dem Eissalon am Hauptplatz von Drosendorf. Lost Place für ein Weilchen schön und gut, aber dann bitte doch auch das affirmative Treiben der Schleifmühlgasse auf Sommerfrische.

Sie merken, dieser Text mäandriert wie die Thaya bei Drosendorf. Doch alles oben Gesagte findet sich im Tun und im Werk des Künstlers – wie er nicht genannt werden möchte – wieder, den wir heute würdigen: Franz Krestan und seine Bilder in dem Band und der Ausstellung »Voraus – Hintaus – Mittendrin«. Schauen wir uns den Titel genauer an.

Was mit Hintaus gemeint ist, dürfte allen klar sein, die die Dörfer des Waldviertels in ihrem ursprünglichen Zustand kennen: Hintaus ist jene Ansicht, die die typische Ansiedlung der Landschaft zukehrt; meist Scheunen, die quer zu den langgestreckten Parzellen liegen, in ihrer Gleichförmigkeit oft von serieller Qualität. Hintaus diente als Begrenzung der Siedlung, manchmal einst zur Abweisung von Feinden, zur Definition der Dorfgemeinschaft. Hintaus ist der Weg hinaus aufs Feld, die Abkürzung hinüber zum Nachbarn, der Schleichweg, wenn die Polizei auf der Hauptstraße blasen lässt. Hintaus ist also nicht die Schauseite, mit der sich ein Ort präsentiert, sondern die Alltagsansicht. Hintaus muss kennen, wer sich mit dem Wesen der Gemeinschaft befasst. Oder anders gesagt: Die repräsentativen Manifestationen von weltlicher oder geistlicher Herrschaft kennen kein Hintaus.

Krestan nähert sich oft über das Hintaus – den Dörfern und Häusern wie den Menschen. Da hängt die Wäsche noch auf der Leine, die Hühner scharren im Erdreich, die Gießkanne ist über die Holzlatten des Gartenzauns gestülpt. Ein liegen gebliebener Steyr-Traktor wird vom blühenden Holunderbusch überwuchert, ein Düngertrichter renommiert als „Erntekönig Spezial“, ein Konzertflügel lugt unter einer Plastikfolie hervor. Oder: Auf einer Hauswand lassen sich die Bauphasen vom groben Feldstein über den gebrannten Ziegel hin zur Eternit-Abdeckung und zum Ytong-Block nachvollziehen. Oder: Der First der Scheune gibt nach, die erstaunlich haltbaren Dachziegel folgen, ohne gleich aus den Sprossen zu rutschen: Wie ein Flügelschlag in Zeitlupe neigt sich der Dachstuhl. Die Qualität von Architektur – so behaupte ich – lässt sich auch an ihrer Vergänglichkeit ermessen. Man versuche sich vorzustellen, wie die thermisch optimierten Fertigteilbauten der Gegenwart in 100 Jahren aussehen werden und wird die Kunstfertigkeit preisen, mit denen die Bauten errichtet wurden, deren Verfall Krestan begleitet.

Auf den ersten, oberflächlichen Blick dokumentiert Krestan also die Lost Places – und das besser als jede Instagram-Story. Aber schon ein zweiter Blick macht deutlich, dass es Krestan nicht um den schnellen Schauwert geht. Krestan ist ein Beobachter, er achtet also das, was er sieht. Er zollt den Häusern, den Menschen, ihren Zeugnissen in diesen Häusern und Höfen Respekt und Anerkennung. Wie jeder gute Erzähler erfasst er die Essenz einer Geschichte und macht sich ein Bild, indem er ein Bild macht. Dieses Bild bietet er der Betrachterin und dem Betrachter an – und überlässt es den Menschen, ob sie selber jene Achtung aufbringen, die den Häusern und den Menschen gebührt.

Aber das ist eben nicht alles. Krestan erkennt Muster. Verdanken mag er das seiner Berufsausbildung als Textiltechniker. Diese Fähigkeit zeigt sich zum Beispiel an einem Mauerwerk: An dem einen strebt ein Baumstamm empor, an dem anderen ein Strommasten. Oder ein Tor zu einer Hoffeinfahrt mit dem typischen Sonnenmotiv, dessen Flügel aus den Angeln geraten sind und nun gegeneinander verschoben einander gerade noch halten. Oder die vermeintliche Asymmetrie, mit der die Kastenfenster an der Straßenfront angebracht sind und die einfach die Baugeschichte über die Jahrhunderte erkennen lassen.

Die Gebäude sind Beispiele für das, was Bernard Rudofsky „Architecture without Architects“ genannt hat. Der Altösterreicher aus Mähren hat 1964 in einer bahnbrechenden Ausstellung im Museum of Modern Art in New York den Wert von sogenannter anonymer Architektur wiedererkannt, indem er ihre Muster und Qualitäten weltweit miteinander verglichen hat. Zitat: „The beauty of this architecture has long been dismissed as accidental, but today we should be able to recognize it as the result of rare good sense in the handling of practical problems. The shapes of the houses (…) seem eternally valid, like those of their tools.“[1] Franz Krestan ist der Chronist dieser Waldviertler Architektur ohne Architekten.

© Oliver Lehmann

Kommen wir mittendrin zum „Mittendrin“ des Titels.

Es ist gar nicht so einfach, diese Häuser und Höfe außen wie innen zu fotografieren. Bewohnerinnen und Besitzer müssen überzeugt werden. Nicht immer sind die Menschen stolz auf den Zustand der Gemäuer. Oft stehen sie leer. Die Großeltern sind gestorben, die Eltern haben sich am Ortsrand ein neues Haus gebaut, aber vielleicht wollen die Kinder irgendwann wieder aus der Stadt zurück aufs Land ziehen? Also werden die Gebäude nicht verkauft und halt solange irgendwie erhalten, bis alle endlich einsehen, dass es mit der Rückkehr aufs Land doch nichts wird. Dann ist es aber vielleicht schon zu spät. Diese Geschichten sollte man kennen, wer einen Blick in die Gebäude machen will und dazu das Vertrauen der BewohnerInnen und der Erben erwerben muss.  Und dazu muss man schon mittendrin sein.

Franz Krestan hat mir erzählt, wie er sich in Ortschaften durchfragt, von einer Nachbarin zur anderen gereicht wird, im Gemeindeamt vorstellig wird. Seine wichtigste Informationsquelle ist ähnlich hin- und baufällig wie die Objekte seiner Begierde: Das Wirtshaus. Hier ergänzt Krestan die Fakten des Grundbuchs um die Geschichten der Menschen. Aus der Kulisse wird ein Bühnenbild und weiter ein Theaterstück. Auch diesem quintessenziellen Bestandteil dörflicher Identität hat Krestan vor ein paar Jahren ein Buch gewidmet. Man kann das äußerst entspannte Konsumverhalten von Alkohol kritisch betrachten. Doch Krestan weiß, dass ein anderer Faktor mindestens so wichtig ist für das Zustandekommen eines Gesprächs und schließlich von Vertrauen.

Nämlich: Zeit. Nur wer sich diese nimmt, indem er sich ihrem Druck entzieht, wird erfahren, wem wann welches Haus wie zugeignet wurde, was sich hinter der der Eternit-Fassade verbirgt, warum da zum Beispiel ein Konzertflügel unter der Plastikplane hervorlugt. Die Zeit ist ein rares Gut geworden – so wie die Wirtshäuser. Betriebsanlagengenehmigungen, Hygienevorschriften und die schnell geleerte Bierkiste vor dem Feuerwehrhaus machen den Wirten das Leben schwer. Nur wer das feine Gehör des Franz Krestan hat, weiß, in welchen – formal von der Bezirkshauptmannschaft wegen mangelhaftem Kanalanschluss geschlossenen – Gasthäusern zu Martini morgens die Gänse noch in das Rohr geschoben werden, auf dass sie zu Mittag mit knuspriger Haut sowie Rotkraut und Erdäpfelknödel auf den Tellern der klandestinen Kundschaft drapiert werden.

Die Innenräume, die Krestan sich so erschließt, sind voller Geheimnisse: Was machen die 18 in rötlichem Leder angefertigten Koffer und Truhen so exakt geschlichtet auf dem Dachboden vor dem Kamin mit der Aufschrift „Dieter P 1974“? Welche Träume mag der grob gewebte Wandteppich mit der barbusig exotischen Tänzerin über dem Schlafsofa angeregt haben? Und welche das Taschenbuch „Tarzans Sohn“ auf dem Nachtkasterl?  Die Küchen und Werkstätten wirken wie Assemblagen des jüngst verstorbenen Daniel Spoerri, nur das da keine Tischgesellschaft plötzlich aufgestanden ist, sondern das Leben an sich. Diese Zufälligkeit erzeugt die Intensität barocker Vanitas-Stilleben, nur das Krestan hier eben keine reizüberflutete Sättigung dokumentiert, sondern das erschöpfte Flackern der Mühsal entlang der Ausgleichszulage. 

Krestan ist also ein Wahrnehmer. In der Bezeichnung steckt weniger die Wahrheit als die Wahrhaftigkeit. Um die Dinge zu sehen, wie sie sind, sind Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit von Nöten. Die Achtung und die Aufrichtigkeit sind die beiden entscheidenden Qualitäten im Werk von Franz Krestan. Und – diese Mäander-Schleife muss auch sein – diese Qualitäten, sind auch die Voraussetzung für gute Politik. Auch davon versteht Franz Krestan etwas.

Ich komme zum Schluss und damit zum rätselhaftesten Begriff des Titels: Voraus. Hier ist mein Vorschlag, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und dauerhafte Gültigkeit. In seiner Würdigung und Wertschätzung des Verfalls erkennt Krestan die Dynamik des Wandels. Möglicherweise ist das Krestans Blick von außen geschuldet, geschult an den Mustern, die der Webstuhl herstellt, und an den schnellen Ballwechseln des Tischtennis, einem Sport, dem er erst als Spieler und dann als Funktionär in jungen Jahren eng verbunden war. Der Wandel mag sich im Waldviertel nicht so dynamisch wie in anderen Weltgegenden vollziehen. Aber beharrlich und unausweichlich – und deswegen umso nachdrücklicher. Der oben erwähnte Bernard Rudofsky hat sich zu Ende seines Lebens von der Architektur verabschiedet; der Untertitel seiner letzten Ausstellung „Sparta/Sybaris“[2] 1987 im Museum für angewandte Kunst in Wien lautet „Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not.“[3] Dieses Wissen hat Franz Krestan uns voraus. Wir sollten auf ihn hören – und lernen mit seinen Augen zu sehen. Diese Ausstellung gibt uns die Gelegenheit dazu.

Oliver Lehmann ist am Institute of Science and Technology Austria (ISTA) für Policy and Advocacy Affairs zuständig, als Publizist tätig und seit 2015 Organisator des Wiener Balls der Wissenschaften (www.oliverlehmann.at). Lehmann wohnt in Wien und Drosendorf a.d.Thaya

[1] Rudofsky B. (1964/1987): Architecture without Architects, University of New Mexico Press, Albuquerque (USA)

[2] ibid. (1987): Sparta/Sybaris. Keine neue Bauweise, eine neue Lebensweise tut not. Hrsg.: Österreichisches Museum für angewandte Kunst, Wien, Residenz Verlag, Salzburg/Wien

[3] https://www.burg-halle.de/id-neuwerk/07-qbm-essentials/2014/04/17/spartasybaris-keine-neue-bauweise-eine-neue-lebensweise-tut-not-1987-bernard-rudofsky/ (aufgerufen: 19.8.2025)

„Voraus – Hintaus – Mittendrin“ von Franz Krestan

Die Ausstellung ist zu sehen von 30. August bis 5. Oktober 2025; Samstag, Sonn- und Feiertag 11–17 Uhr; Eisenberger Fabrik, Litschauerstr. 23, 3950 Gmünd. Das Buch zur Ausstellung ist in der Bibliothek der Provinz erschienen (www.bibliothekderprovinz.at

Franz Krestan, 1946 in Wien geboren, wuchs in Drosendorf an der Thaya auf, verheiratet, zwei erwachsene Töchter, einen Enkel namens Paul. Nach seiner Ausbildung zum Textiltechniker und einigen Praxisjahren in der Textilindustrie kam er zurück nach Drosendorf und machte sich als Textilkaufmann selbstständig. In jungen Jahren dem Tischtennissport sehr verbunden, prägte er ab 1975 durch sein Engagement die Gemeinde Drosendorf, zuerst als Stadtrat für Tourismus, Kultur und Sport, später 21 Jahre lang als Bürgermeister. Krankheitsbedingt gab er diese Funktion auf und widmet sich seitdem wieder der Fotografie, einer Leidenschaft, die er von seinem Vater übernommen hat. Seine bevorzugten Motive sind die Menschen in ihrer natürlichen Umgebung, im Wirtshaus und bei Festen, aber auch die Landschaft und die ländliche Architektur bildet er gerne ab. Seine Wirtshausbilder wurden im In- und Ausland schon oft ausgestellt. (www.krestan.at)