12|10|10: London – Die Stadt an sich

Es ist das Comeback des Sommers. Wieder mal hat es London mit den olympischen Spielen allen vermeintlichen Metropolen gezeigt: Der Nabel der Welt liegt an den Ufern der Themse, gespeist von der Energie, dem Esprit, der Ausdauer und der wahrhaften Multikulturalität seiner acht Millionen Menschen, die sich auch von einer zutiefst unfairen Klassengesellschaft und dem rabiaten Glauben an die Allmacht des Marktes nicht unterkriegen lassen. Beginnend mit den Festivitäten zum diamantenen Kronjubiläum von Elizabeth II. im Mai tauchte diese Ansammlung von urbanen Versuchsanlagen in einen Party-Sommer, der von Ferne betrachtet, als hedonistische Extravaganz auf Kreditkartenrechnung  anmuten mag.

Doch – und das zeigt der Prachtband des Taschen-Verlags – die Stadt hat es immer wieder verstanden, sich selber neu zu erfinden, und zwar in einer Entschlossen- und Rücksichtslosigkeit wie sonst auf diesem Kontinent in Ansätzen Berlin, in vergleichbarem Ausmaß nur Moskau es ihr gleichgetan hat.  1926, im Geburtsjahr von Elizabeth II., war London die Kapitale der Welt: Ein Viertel der globalen Fläche und der Bevölkerung war dem britischen König untertan. Die Postkartenansichten stammen aus der Zeit, als das Empire diesem Höhepunkt zustrebte: Das Parlament mit dem Big Ben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, London Bridge, Trafalger Square, das British Museum, Picadilly Circus und die Oxford Street in den folgenden Jahrzehnten.

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Viele Historiker verblüfft an diesem Aufstieg zur Weltmacht die Absenz von zentraler Kontrolle. Scheinbar zufällig dehnte sich die rosa Farbe in den Schulatlanten aus von Ägypten bis ans Kap der guten Hoffnung, die Südküsten Asiens entlang, hinüber nach Australien und Neuseeland und hinauf in die arktischen Weiten Kanadas. Dazu kam das, was die Briten ihr „informal Empire“ nannten, eine Hegemonialzone, die ohne Kolonialbürokratie und Militär auskam, aber auf dem wirtschaftlichen Einfluss basierte und zum Beispiel in Südamerika ganze Volksökonomien prägte.

Doch das Empire basierte auf einer wechselweisen Einflussnahme, wie Edward Said schlüssig erklärte. Der US-amerikanische Literaturkritiker palästinensischer Herkunft beschreibt, wie viele Menschen sowohl im Empire wie in dessen Zentrum zu dem imperialen Diskurs beitrugen, der der Konstruktion von Wissen über Menschen und Orte diente, ohne dass sich die Beteiligten über diesen Akt immer und vollständig klar gewesen wären – mit der Folge, dass diese Wechselwirkung sich nicht nur auf die Eliten beschränkte (also jene, die die Prachtbauten errichten ließen), sondern auch über alle Klassenschranken hinweg auch die breite Masse betraf. Das Empire war dank der Produktion und dem Erwerb von Kolonialwaren sowie der zunehmenden Verbreitung von Massenmedien alltagstauglich geworden.

Diese Verknüpfung der ökonomischen Bedingungen vieler Individuen in Großbritannien mit einem kollektiv erlebten Gefühl nationaler Hochstimmung, so der in Wien verwurzelte Doyen der britischen Historiker, Eric Hobsbawm, sei ausschlaggebend gewesen für den gesellschaftlichen Diskurs (und sei er auch nur in Krawallschlagzeilen formuliert) über das Wesen des Empires. Das Empire wurde zum Synonym für die Nation und ihre Volkswirtschaft.

Der Fall nach dem 2. Weltkrieg hätte kaum drastischer sein können. In Europa möglicherweise nur mit dem Funktions- und Identitätsverlust Wiens nach 1918 vergleichbar, schmolz Großbritannien binnen zweier Jahrzehnte auf die Dimension eines notorisch quengelnden Mitglieds der EU zusammen, dessen Eliten sich im Unklaren sind, ob sie sich am Auf- und Ausbau Europas beteiligen oder einer imperialen Nostalgie in den Rockschößen der „special relationship“ mit der neuen Hegemonialmacht USA nachtrauern sollen. Doch dieser Niedergang lässt sich auch verständnisvoller beschreiben: Es war Großbritannien, das sein Empire bei den US-Amerikanern verpfändete, um den Kampf gegen Hitler-Deutschland zu führen.

Die Ankunft von 493 Jamaicanern auf der MV Empire Windrush 1948 lässt sich als Beginn eines neuen Kapitels der Geschichte Londons beschreiben.  Die Stadt wurde zur ethnisch vielfältigsten Metropole des Kontinents und bezieht gerade aus dieser Adaptionsfähigkeit das Potenzial nicht zuletzt in den Verwerfungen der Finanzkrise der letzten Jahre erneut zu bestehen – auch wenn die „Shard“ von Renzo Piano, das mit 310 Metern seit 2010 höchste Gebäude Europas, als Synonym für die Pflugscharen verstanden werden kann, mit denen das Sozialgefüge der Stadt erneut umgepflügt wird.

Der vermeintlich unbezwingbaren Logik dieser Verwerfungen hat Regisseur Danny Boyle mit seiner Eröffnung der olympischen Spiele 2012 ein Fest der Improvisation und Kreativität entgegen gestellt. Auf Hals abschnürenden Pathos folgte befreiende Blödelei, hartnäckiger Erfindungsreichtum wurde mit anarchischer Lebensfreude in Einklang gebracht. Oder anders: Die Welt wurde daran erinnert, was für ein Schatz London ist. Das Buch hilft dabei, sich dessen zu vergegenwärtigen.

„London. Porträt einer Stadt“ von Reuel Golden. Taschen Verlag, 552 Seiten, € 51,40

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